Streng sah sie aus, akkurat und pflichtbewusst – unsere leitende Stationsschwester auf Station C5 des Diakonissenkrankenhauses in Sachsenhausen. Trafen die Schwestern und ich als Krankenpflegepraktikant morgens auf dem Stützpunkt ein, dann erwartete sie uns schon mit prüfendem Blick. Als ordentliche Diakonisse war sie auch ordentlich gekleidet, von der Schwesternhaube über die weiße Uniform bis hinab zu den schwarzen Schuhen. Zu spät zu kommen war bei ihr keine Option. Niemals. In ihren gepflegten Händen hielt sie morgens schon das Losungsbuch, das sie – ohne dass sich dahinter ein System erkennen ließ – reihum einem von uns Mitarbeitern zum Lesen des Andachtstextes entgegenhielt. Schwester Hannah hatte feine Gesichtszüge, doch in ihrer Strenge vermisste ich so manches Mal die Milde. Diskussionen mit ihr wären undenkbar gewesen. Mit großer Autorität verteilte sie morgens die Aufgaben – es ging mit dem Waschen der Patienten los. Nach dieser frühen Prozedur, die immer mit der größten Nähe zu den Patienten verbunden war, kam das Vorbereiten des Frühstücks in der alten Stationsküche mit dem großen Arbeitsblock in der Mitte des Raumes. Flink schmierten Schwester Hannahs Hände die Butterbrote, und wenn ich neben ihr stand, um das Tablett für meinen Patienten entgegenzunehmen, dann fiel es kaum auf, dass Schwester Hannah einen Kopf kleiner als ich war. Schwester Hannah hatte eine innere Größe mit der sie uns alle überragte. „Sie schäkern mit unseren Schwestern – das kann ich nicht dulden. Wir werden uns darüber Gedanken machen müssen, ob wir das Praktikum von ihnen nicht vorzeitig beenden!“ – Schwester Hannah sprach sich sehr unmissverständlich aus – und ich merkte gleich, dass hier kein Raum für Widerspruch war. Ihr zu entgegnen, dass in Wirklichkeit die Schwestern mit mir schäkerten, erschien mir nicht ritterlich gegenüber den Schwestern – also gab es gleich zwei Gründe für mich, zu schweigen. Mit eisigem Blick drückte Schwester Hannah mir das Tablett in die Hand. Schweigend brachte ich es ins Patientenzimmer. Als ich zurück in die Küche kam, da war immer noch frostige Stimmung im Raum. Ich schaute Schwester Hannah an, die hochkonzentriert das nächste Frühstückstablett fertig machte. Für einen kleinen Moment kreuzten sich unsere Blicke. Flüchtig. Trotzdem ermunterte mich dieser Augenblick, die Atmosphäre mit einem Satz etwas aufzulockern: „Ich bin hier im Diakonissenkrankenhaus geboren. In diesem Haus kam ich zur Welt.“ Schwester Hannah setzte unbeirrt ihre Arbeit fort. Fast harsch warf sie mir nur ein Wort entgegen: „Wann?“ – Nicht mehr. Präzise und klar. – „1963. Fünf Tage vor Heilig Abend“, kam von mir knapp zurück. Ich wusste, dass Schwester Hannah längere Monologe während der Arbeit nicht schätzte. Auf meine Antwort kam auch keine weitere Reaktion von ihr. Das nächste Frühstückstablett landete ebenso forsch in meinen Händen wie alle Tabletts zuvor. Die Atmosphäre blieb so eisig wie zuvor. Ich konnte an der Situation nichts verbessern. So schien es. Doch am folgenden Tag geschah das Unerwartete. Schwester Hannah lächelte. Ich hatte sie nie zuvor lächeln sehen. Was hatte sie verwandelt? – Als wir alle versammelt waren, hielt sie mir das Losungsbüchlein zum Vorlesen entgegen. Doch heute nicht kommentarlos wie sonst üblich: „Ich habe gestern noch im Geburtsregister nachgeschlagen. Im Dezember 1963 begann ich meinen Dienst hier im Diakonissenkrankenhaus. Und ich war am Abend des 19. Dezember im Kreißsaal dabei, als Sie geboren wurden.“ – Voller Milde und Liebe schaute mich Schwester Hannah an. Ihre Augen leuchteten, als gehe die Sonne auf. Solch eine Regung kannten wir alle von ihr nicht. Etwas Neues war aufgebrochen auf Station C5. Und was soll ich sagen? Wer – denkst du – hat von da an auf der Privatstation im fünften Stock mit mir geschäkert?
Streng sah sie aus, akkurat und pflichtbewusst – unsere leitende Stationsschwester auf Station C5 des Diakonissenkrankenhauses in Sachsenhausen. Trafen die Schwestern und ich als Krankenpflegepraktikant morgens auf dem Stützpunkt ein, dann erwartete sie uns schon mit prüfendem Blick. Als ordentliche Diakonisse war sie auch ordentlich gekleidet, von der Schwesternhaube über die weiße Uniform bis hinab zu den schwarzen Schuhen. Zu spät zu kommen war bei ihr keine Option. Niemals. In ihren gepflegten Händen hielt sie morgens schon das Losungsbuch, das sie – ohne dass sich dahinter ein System erkennen ließ – reihum einem von uns Mitarbeitern zum Lesen des Andachtstextes entgegenhielt. Schwester Hannah hatte feine Gesichtszüge, doch in ihrer Strenge vermisste ich so manches Mal die Milde. Diskussionen mit ihr wären undenkbar gewesen. Mit großer Autorität verteilte sie morgens die Aufgaben – es ging mit dem Waschen der Patienten los. Nach dieser frühen Prozedur, die immer mit der größten Nähe zu den Patienten verbunden war, kam das Vorbereiten des Frühstücks in der alten Stationsküche mit dem großen Arbeitsblock in der Mitte des Raumes. Flink schmierten Schwester Hannahs Hände die Butterbrote, und wenn ich neben ihr stand, um das Tablett für meinen Patienten entgegenzunehmen, dann fiel es kaum auf, dass Schwester Hannah einen Kopf kleiner als ich war. Schwester Hannah hatte eine innere Größe mit der sie uns alle überragte. „Sie schäkern mit unseren Schwestern – das kann ich nicht dulden. Wir werden uns darüber Gedanken machen müssen, ob wir das Praktikum von ihnen nicht vorzeitig beenden!“ – Schwester Hannah sprach sich sehr unmissverständlich aus – und ich merkte gleich, dass hier kein Raum für Widerspruch war. Ihr zu entgegnen, dass in Wirklichkeit die Schwestern mit mir schäkerten, erschien mir nicht ritterlich gegenüber den Schwestern – also gab es gleich zwei Gründe für mich, zu schweigen. Mit eisigem Blick drückte Schwester Hannah mir das Tablett in die Hand. Schweigend brachte ich es ins Patientenzimmer. Als ich zurück in die Küche kam, da war immer noch frostige Stimmung im Raum. Ich schaute Schwester Hannah an, die hochkonzentriert das nächste Frühstückstablett fertig machte. Für einen kleinen Moment kreuzten sich unsere Blicke. Flüchtig. Trotzdem ermunterte mich dieser Augenblick, die Atmosphäre mit einem Satz etwas aufzulockern: „Ich bin hier im Diakonissenkrankenhaus geboren. In diesem Haus kam ich zur Welt.“ Schwester Hannah setzte unbeirrt ihre Arbeit fort. Fast harsch warf sie mir nur ein Wort entgegen: „Wann?“ – Nicht mehr. Präzise und klar. – „1963. Fünf Tage vor Heilig Abend“, kam von mir knapp zurück. Ich wusste, dass Schwester Hannah längere Monologe während der Arbeit nicht schätzte. Auf meine Antwort kam auch keine weitere Reaktion von ihr. Das nächste Frühstückstablett landete ebenso forsch in meinen Händen wie alle Tabletts zuvor. Die Atmosphäre blieb so eisig wie zuvor. Ich konnte an der Situation nichts verbessern. So schien es. Doch am folgenden Tag geschah das Unerwartete. Schwester Hannah lächelte. Ich hatte sie nie zuvor lächeln sehen. Was hatte sie verwandelt? – Als wir alle versammelt waren, hielt sie mir das Losungsbüchlein zum Vorlesen entgegen. Doch heute nicht kommentarlos wie sonst üblich: „Ich habe gestern noch im Geburtsregister nachgeschlagen. Im Dezember 1963 begann ich meinen Dienst hier im Diakonissenkrankenhaus. Und ich war am Abend des 19. Dezember im Kreißsaal dabei, als Sie geboren wurden.“ – Voller Milde und Liebe schaute mich Schwester Hannah an. Ihre Augen leuchteten, als gehe die Sonne auf. Solch eine Regung kannten wir alle von ihr nicht. Etwas Neues war aufgebrochen auf Station C5. Und was soll ich sagen? Wer – denkst du – hat von da an auf der Privatstation im fünften Stock mit mir geschäkert?